Alyssa Aska, circles.lines (2020)
Sofia Gubaidulina, Der Seiltänzer (1995)
Ryan Carter, Concurrent Threads (2012)
Naomi Pinnock, Lines and Spaces (2015)
Katherine Balch, Music about Glowworms
……I. thread, unfurled (2016)
……II. drip / spin (2017)
La Monte Young, Composition 1960, Nr. 10
……“Draw a straight line and follow it” (1960)
Alyssa Askas circles.lines (2020) für Glissando-Flöte und Tape nimmt die geometrische Elemente des Titels und übersetzt sie wortwörtlich in Klänge. Mit teils minimalen, teils größeren Bewegungen entfernt sich der Klang der Flöte von der Schiene der elektronischen Klänge. Die aufgenommene und die live gespielte Musik jagen, treffen und trennen sich ständig mit kreisförmigen und zickzackförmigen Gesten.
In Sofia Gubaidulinas Der Seiltänzer (1993/95, ursprünglich für Violine und Klavier komponiert) werden sowohl die Suche nach Perfektion und bedingungsloser Schönheit als auch die Risiken, die der Drahtseiltanz kennzeichnen, in Musik dargestellt. Auf Messers Schneide bewegen sich beide Instrumente zwischen gefährlichen Sprüngen und düsteren Glissandi. Der Komponistin zufolge ist das Stück eine Metapher für Gegensätze: das Leben als Risiko und die Kunst als Flucht in eine andere Existenz. Der Titel entspringt dem Wunsch, aus der Begrenztheit des Alltags, der unweigerlich mit Risiko und Gefahr verbunden ist, auszubrechen – dem Wunsch nach dem Rausch der Bewegung, des Tanzes, der ekstatischen Virtuosität.
Ein wahres Gewebe von Klängen und erweiterten Effekten wird in Ryan Carters Concurrent Threads von der Bassflöte geschaffen – auf dieser Art und Weise verwandelt das Instrument den melodischen Faden in ein kontrapunktisches Konstrukt.
Lines and Spaces von Naomi Pinnock (2015) für Klavier schafft mit reduzierten Klangmitteln klare Formen: Linien und Räume, die die Hörerfahrung begleiten und einrahmen.
Katherine Balchs Thread, unfurled (2016) ist der erste Satz des Zyklus Music about Glowworms und stellt die seidigen, leuchtenden Fangfäden der Larven von Glühwürmchen, die in Höhlen und Grotten gesponnen werden, klanglich dar. Lichtsäulen werden zu Klangfäden, Flöte und Klavier flüstern und tropfen und seufzen gemeinsam mit brüchiger Zerbrechlichkeit nach unten. Drip / Spin (2017) ist der zweite Satz und suggeriert sowohl einen unumkehrbaren und schicksalhaften Vorgang als auch Verspieltheit, Schwindel und sich wiederholende Gesten, die den Zyklus abschließen.
Bei der Composition 1960, Nr. 10 vom minimalistischen Komponisten La Monte Young – die aus einer einfachen Spielanweisung besteht: “Draw a straight line and follow it” – kann alles passieren.
HINTERGRUND
Konzeptueller Ausgangspunkt für das Projekt Threads war unsere Faszination für die Mehrdeutigkeit einfacher und universaler Zeichen wie Linien und Knoten und ihrer Verbindung in Netzten.
Nicht nur ist die Erstellung von Linien ebenso allgegenwärtig wie die Verwendung von Stimme, Händen und Füßen, jeweils beim Sprechen, Gestikulieren und Gehen, sondern vielmehr fasst sie all diese Aspekte des täglichen menschlichen Handelns zusammen und so führt sie zu einem einzigen Untersuchungsfeld zusammen. (Tim Ingold, Lines, 2007)
Mit Linien – egal ob abstrakt durch Schemata oder konkret durch Fäden, Seilen und Ähnlichem – lassen sich komplexe Zusammenhänge und gesellschaftliche Beziehungen verdeutlichen.
Der italienische Schriftsteller Italo Calvino hat beispielsweise das Bild der Fäden mehrmals aufgegriffen, wie etwa in seinen Unsichtbaren Städten (1972), um die Beziehungen und Strukturen, die das Leben in der Stadt regeln, darzustellen (Ersilia) oder um die fragile Schönheit und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens auszumalen (Ottavia).
Auch in der Mythologie und in der Epik kommen Fäden und Netze oft mit unterschiedlichen Bedeutungen (Strafe, Falle, Rettung, Darstellung des Vergehens der Zeit, Kunstkniff, …) ins Spiel, wie etwa bei den Figuren von Arachne, Ariadne, Penelope, Hephaistos, …, um uns nur auf die westliche Tradition zu beschränken.
In der Gegenwart sind Netze ubiquitär und wir sind dicht vernetzt. Ob Netze als Universalmetapher inflationär werden oder der interdisziplinären Theoriebildung dienen, ob das Bild des Netzes der ‚Äther‘ unserer Zeit ist – in der Kunst wird es mit seinen natürlichen, kulturellen und digitalen Dimensionen aufgegriffen, und immer wieder lockt es, die Grenzen der Kunst auszuweiten. (Maren Wienigk, Dichte Maschen, große Wirkung. Netze in der Gegenwart, in Netz. Vom Spinnen in der Kunst, Kerber 2014)
Nicht nur in den bildenden Künsten sind Linien, Knoten, Fäden und Netze omnipräsent. Sie sind wesentliche Basis auch anderer Kunstformen, wie die Seiltanzkunst und die Fesselkunst. In den Augen des Drahtseilkünstlers Philippe Petit ist ein Seil das Nonplusultra der künstlerischen Suche der Perfektion, ein Symbol der in sich selbst erfüllten Schönheit (P. Petit, On the High Wire), während für Fesselkünstler*innen stellen Seile die Möglichkeit einer Verformung und Verwandlung der Körper und des Raumes zu neuen Skulpturen und räumlichen Konzepten dar. Beispielgebend für die grenzlosen skulpturellen und installativen Möglichkeiten von Fäden sind darüber hinaus die Werke von Hajime Kinoko, Jens Risch oder Chiharu Shiota.
In der Musik, in der klanglichen Organisation der Zeit, wie dieses Konzertprogramm zeigen möchte, sind Linien und Fäden ebenfalls zuhause. Notationssysteme, monodische Musiklinien und die Verflechtung der Stimmen in der Mehrstimmigkeit sind offensichtliche Beispiele dafür. Das Potenzial von diesen Motiven als generative und kompositorische Keime wird umso mehr in der modernen und zeitgenössischen Musik ausgelotet.